Die Berufstätigen-WG

Das Leben in der Berufstätigen-WG
»… Sie sind zu sechst. Genauer gesagt sind sie sechseinhalb, der achtjährige Sohn eines Mitbewohners ist an den Wochenenden auch noch da. Sie haben eine Berufstätigen-WG gegründet. Vier Männer, zwei Frauen, zwischen 35 und 50 Jahre alt, beschäftigt in der Medizin- und in der Kommunikationsbranche, bis auf den zweifachen Master-Absolventen, dessen Miete noch vom Staat bezahlt wird. Ihr gemeinsames Haus im Kaffeemühlenstil kann jedem Single-Appartement die Schau stehlen: Knapp 300 Quadratmeter auf drei Etagen. Neun Zimmer, Garten, Putzfrau…
… Mit der Gründung ihrer Berufstätigen-WG sind die sechs längst keine Exoten mehr. Vor allem in den Großstädten wird das Lebensmodell immer beliebter. Das zumindest belegen die Zahlen des Immobilienportals wg-gesucht.de. Jüngst hat die Online-Plattform Alter und Wohnform seiner Inserenten verglichen. Das Ergebnis: Innerhalb von drei Jahren ist der Anteil an WGs mit mindestens einem Berufstätigen um knapp 6 Prozent gestiegen – von 28,4 Prozent im Jahr 2012 auf 34,2 im vergangenen Jahr…
… Das Leben in der Wohngemeinschaft ist fast immer mehr als eine Notlösung.
Clemens Albrecht, Professor für Soziologie an der Universität Koblenz, sagt: »Es ist eine uralte Lebensform, dass neben der Kernfamilie auch andere Menschen, Verwandte und Gesinde in einem Haus leben.« In den heutigen Wohngemeinschaften gehe es um die ideale Balance zwischen dem Anspruch auf individuelles Leben und dem Streben nach Gemeinschaft: »Man hat sie, wenn man es möchte – sonst macht man die Tür zu.«
… Wie familiär geht es in der Berufstätigen-WG tatsächlich zu?
Schon bald nach dem Einzug fragt sich eine Bewohnerin, ob man eigentlich immer miteinander reden muss, nur weil man im selben Haus wohnt. Muss man immer gute Laune haben, wenn man sich in der Küche, der Diele oder im Garten über den Weg läuft? Und warum eigentlich sind Geräusche aus dem Bad so störend, wenn sie nicht von einem sehr vertrauten Menschen stammen? Damals, in der Studenten-WG, hatte sie so etwas lockerer gesehen.
Rund 20 Jahre später muss sie erkennen, dass eine gewisse Festgefahrenheit, ihr Bedürfnis nach Ruhe und Regelmäßigkeit, auch ein wenig im Widerspruch zum WG-Leben steht. Schließlich hat jeder der Bewohner seinen eigenen Lebensrhythmus…
… Egal, in welcher Form: Soziologe Albrecht geht davon aus, dass die Berufstätigen-WG für viele Bewohner eine zeitlich begrenzte Option ist – zumeist, bis die Betroffenen eine eigene Familie gründen…
… Die Wohngemeinschaft im Kaffeemühlenhaus existiert längst nicht mehr in ursprünglicher Besetzung. Nach wenigen Monaten zog der Master-Absolvent aus, weil er einen Job in München gefunden hatte. Anfang des Jahres verließ ein weiterer Mitbewohner das Haus, weil es ihm im Souterrain zu laut wurde. Auch besagte Mitbewohnerin zieht, weil sie sich »einen echten Rückzugsort« wünscht, aus ihrem Erdgeschosszimmer in eine eigene kleine Wohnung.
Neue Mitbewohner für die WG mit Waldblick waren schnell gefunden. Tagelang klingelte das Telefon, Dutzende E-Mails trafen ein. Von berufstätigen, ungebundenen Menschen in der Mitte ihres Lebens. Menschen, die sich gegen ein Leben von der Stange entschieden haben. Und gegen das Alleinsein.«
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Kommentar
Welches wäre denn ein Leben von der Stange, stellt sich hier die Frage, von dem besagte Menschen flüchten? Das »Hotel bei Mama«? Oder gab man dafür gar eine schicke Zweizimmerwohnung in einer Kleinstadt bzw. auf dem Lande auf? War es das Reiheneckhaus, in dem man seine Familie und Kinder zurückgelassen hat? Welch eine Wohnform war so natürlich und so gesund, dass eine Berufstätigen-WG ihr gegenüber als Notlösung erscheint?
Ebensogut könnte man sich die Frage in die andere Richtung stellen: Was wäre denn die anzustrebende höherwertige Alternative? Ist die eigene Zweizimmerwohnung tatsächlich das höchst anzustrebende Glück eines Singles? Oder wie im Osten vor der Wende, gibt es erst eine Wohnung, wenn man verheiratet ist und möglichst ein Kind hat? Ist die Kleinfamilie demnach der erlösende Ausweg aus einer WG?
Wenn die Berufstätigen-WG lediglich eine Maßnahme gegen das Alleinsein ist, wie sähe denn dann die Lebensform, welche FÜR etwas steht und WOFÜR, aus?
Die Vergänglichkeit jedweder WGs, ob sie von Senioren, Studenten oder Berufstätigen bewohnt werden, liegt in ihrem Ansatz selbst begründet. Das Fehlen von Gemeinschaftsbildungsprozessen, stümperhafte Kommunikationsstrukturen, Fehlen von Konfliktbewältigungsstrategien und die getrennte Wirtschaftlichkeit sorgen für eine emotionale Kurzlebigkeit dieser Lebensform. Jeder steht am Ende für sich allein. Häufig führt dies gar zu einem Rückzug in die buchstäblichen eigenen vier Wände des WG-Zimmers bzw. in die Vereinsamung innerhalb einer sogenannten WohnGemeinschaft.
Fazit: Mehr Not, als Lösung.
300 Quadratmeter auf drei Geschossen plus Putzfrau ist die rühmliche Ausnahme. Üblicherweise bleibt sie ein Traum. Die Regel ist vielmehr die Dreizimmerwohnung im Seitenflügel eines Altbaus ohne Wohnzimmer, Terrasse und Garten.
DerPHILANTHROPIANIER