Ökodorf Sieben Linden — ein ganzheitliches Gemeinschaftsprojekt

16. September 2021 Lesezeit: Orte, Share
Das ganzheitliche Gemeinschaftsprojekt Ökodorf Sieben Linden besteht seit 20 Jahren. Fast von Anfang an mit dabei ist Christoph Strünke. Der Umweltwissenschaftler ist reich an Erfahrungen im nachhaltigen Zusammenleben. Im Interview gibt er einen Einblick in das Ökodorf und er erzählt von der Herausforderung möglichst ökologisch in Gemeinschaft zu leben und gleichzeitig den persönlichen Wünschen der Individuen zu entsprechen.
Gemeinschaftsprojekt Ökodorf Sieben Linden – vorstellt bei bring-together
Die Gemeinschaft Ökodorf Sieben Linden © Ökodorf Sieben Linden

Interview mit Christoph Strünke

Kannst Du Dich bitte kurz vorstellen?

Ich bin 52 Jahre alt und wohne seit 2002 im Ökodorf Sieben Linden. Ich habe mal an der Universität Lüneburg Angewandte Kulturwissenschaften studiert mit dem Schwerpunkt Ökologie und Umweltbildung, auch weil der damalige Gründer dieses Teilbereichs »Ökologie« innerhalb der Kulturwissenschaften sagte: »Unsere ökologische Krise ist eine kulturelle Krise«. Leider gab es während des Studiums keine Veranstaltung, im Rahmen dessen wir darüber hätten diskutieren können.

Ich habe mir zum Ende meines Studiums mehrere intentionale Gemeinschaften angeschaut, mich dann in 2001 dem Ökodorf Sieben Linden angenähert und bin ein Jahr später hingezogen.

Ich war dann von 2004 bis 2014 Geschäftsführer der zentralen Organisation Siedlungsgenossenschaft Ökodorf e.G.

Seit 2008 arbeite ich in der Umweltbildung, v.a. in der Leitung von Seminaren im Freiwilligen ökologischen Jahr und seit ca. 2 Jahren gebe ich Workshops zum ökologischen Fußabdruck.

Seit 2017 leite ich im Team das Projekt »Leben in zukunftsfähigen Dörfern«

Was sind die 5 essentiellen Merkmale, die das Ökodorf Sieben Linden ausmachen? Was sind Eure Handlungsziele?

1. Das Ökodorf Sieben Linden ist ein ganzheitliches Gemeinschaftsprojekt mit dem Ziel, nachhaltige Lebensstile zu verwirklichen, die den ökologischen Fußabdruck stark verringern. Die Bereiche Ökologie, Soziales, Kultur und Ökonomie gehen dabei Hand in Hand, um eine zukunftsfähige Lebensweise mit einer hohen Lebensqualität zu verbinden. So lässt sich das Ökodorf nur vor dem Hintergrund seines regen Gemeinschaftslebens verstehen.

2. Unser übergeordnetes Ziel in Sieben Linden ist es, den ökologischen Fußabdruck (die Fläche auf der Erde, die ein Mensch verbraucht mit seinem jeweiligen Lebensstil) in allen Lebensbereichen zu reduzieren.

3. Gemeinschaftlich zu leben und gleichzeitig die Bedürfnisse und Besonderheiten jedes Menschen zu achten und zu würdigen – das ist unsere Vision und tägliche Herausforderung. Unsere Grundlagen dafür bilden Transparenz und Vertrauensaufbau im Kontakt, ehrliche und achtsame Kommunikation, gegenseitige Wertschätzung und Entscheidungsfindung auf einer breiten Basis.

4. Zu unserer Vision eines nachhaltigen Lebensstils gehört auch eine nachhaltige Ökonomie. Wir bauen eine solidarische und ökologische Ökonomie auf. Unsere Dorfökonomie hat manche Aspekte einer gemeinsamen Ökonomie, aber lässt doch sehr viel individuellen Spielraum.

5. Wir entwickeln eine Kultur des Miteinanders, in der die Selbstverantwortung und der Respekt vor anderen Lebewesen eine hohe Stellung einnimmt. Zu unserer Gemeinschaftskultur gehört das Leben mit der Vielfalt und das Aushalten der Unterschiede elementar dazu. Wir suchen nach konstruktiven Wegen, mit Unterschieden umzugehen und eine Kultur der Achtsamkeit aufzubauen.

Du lebst seit 2002 im Ökodorf Sieben Linden. Was waren aus Deiner Sicht die größten Herausforderungen in der Entwicklung des Ökodorfs?

Eine große Herausforderung war und ist es weiterhin, mit unterschiedlichen Meinungen und »Wesensarten« konstruktiv umzugehen.

Manchmal werden Konflikte nicht gut angesprochen und dann entsprechend auch nicht gelöst.

Eine Herausforderung war in 2007/2008 die Weiterentwicklung unseres Entscheidungsmodells hin zu mehr Dezentralisierung. Eine ähnliche Herausforderung haben wir derzeit.

Eine immerwährende Herausforderung ist es, möglichst ökologisch zu leben (also energie- und ressourcenschonend) und gleichzeitig entsprechend den persönlichen Wünschen zu leben, die dem manchmal entgegenstehen, z.B. in den Lebensbereichen Ernährung oder Mobilität.

Das Ökodorf verbindet gemeinsames Wohnen und Arbeiten? Wie dürfen wir uns das vorstellen?

Wir haben vor Ort 12 Häuser und ca. 40 Bauwägen, in denen die insgesamt 140 Bewohner*innen des Ökodorfs wohnen (100 Erwachsene und 40 Kinder/Jugendliche).

Gleichzeitig haben wir sehr viele Arbeitsplätze vor Ort: im Gartenbau, Hausbau, Gestaltung unseres großen Geländes, Waldwirtschaft, Bildungsarbeit und Gästebetrieb, Waldkindergarten, Wildkräuterversand u.v.m.

Insgesamt ist ca. 50% der Arbeitskraft der erwachsenen Personen vor Ort. 30% ist Außenarbeit und die restlichen 20% sind Menschen in Rente oder mit Transfereinkommen (z.B. vom Lebenspartner mit finanziert).

Arbeiten vor Ort hat positive soziale, ökologische und kulturelle Auswirkungen.

Da die Menschen vor Ort arbeiten, können sie sich zum gemeinsamen Mittagessen vor Ort treffen. Treffen in Kleingruppen können tagsüber stattfinden und nicht unbedingt abends. Auch kann dadurch das kulturelle Leben reichhaltig sein.

Da die Menschen kaum bis gar keine Zeit brauchen, um vom Wohnort zum Arbeitsort zu gelangen, und dafür auch nicht mit dem Auto fahren müssen, schont das auch den Ressourcenverbrauch.

Selbstversorgung im Ökodorf Sieben Linden – vorstellt bei bring-together
Selbstversorgung im Ökodorf Sieben Linden © Ökodorf Sieben Linden

In Eurer Siedlungsgemeinschaft leben über 100 Menschen. Wie trefft Ihr kurzfristige Entscheidungen?

Viele Entscheidungen werden in »Räten« und Kleingruppen getroffen. Wir haben derzeit sechs Räte und viele Kleingruppen, von denen sich die meisten 1mal pro Woche treffen und in denen 4-8 Menschen im Konsens entscheiden. Die Organisationen haben auch eine Geschäftsführung, die in Absprache mit den Ratsmitgliedern und ggf. dem Vorstand viele weitere Entscheidungen kurzfristig trifft. Da jede Person in nur einem Rat sein darf, sind sehr viele Menschen in die Entscheidungen eingebunden.

Wir erleben oft, dass Gemeinschaftssuchende sich darüber beschweren, dass viele Gemeinschaftsprojekte nur etwas für Wohlhabende sind. Was setzt Du dem entgegen?

Ich kann zustimmen, dass es eine Hürde ist, dass man für ein dauerhaftes Leben im Ökodorf Sieben Linden Kapital mitbringen muss (ca. 25T € pro erwachsene Person). Gleichzeitig ist es einfach so, dass wir für eine Selbstversorgung mit Lebensmitteln und Heizenergie viel Fläche brauchen und um dieses Land dafür zu kaufen, brauchen wir viel Geld. Auch der Bau von gut gedämmten Häusern mit ökologischen Baustoffen kostet nicht wenig. Um das alles gemeinsam zu finanzieren, muss jede:r Erwachsene Kapital mitbringen. Wir finden es auch nicht sinnvoll, wenn das Projekt finanziell von dem Kapital einiger weniger Personen abhängig ist.

Es gibt immer wieder Menschen, die mit keinem oder sehr wenig Kapital ins Ökodorf einziehen und die sich das Geld bei Verwandten oder Freund:innen und auch bei Menschen innerhalb des Ökodorfs ausleihen. Auch haben wir einen Solidarfonds eingerichtet, in den Menschen von in- und außerhalb des Ökodorfs Geld spenden und es so immer wieder eine Ausschüttung von Genossenschaftsanteilen gibt. So leben wir eine solidarische Privatökonomie.

Was muss ich mitbringen, wenn ich bei Euch mitmachen möchte? Bzw. wer kann mitmachen und was sind die Spielregeln?

Du besuchst ein Ökodorf-Kennenlern-Seminar, danach das Seminar »Sieben Linden Intensiv« und bewirbst Dich dann für die Teilnahme am Gemeinschaftskurs. Wenn Du an dem Gemeinschaftskurs teilgenommen hast, machst Du einen Vorstellungsabend, der gleichzeitig dem Antrag auf eine einjährige Probezeit entspricht.

Du musst dem Grundsatzpapier des Ökodorfs Sieben Linden zustimmen.

Du musst mind. 13.000 € für die Siedlungsgenossenschaft einzahlen. Du kannst – musst aber nicht – diesen Betrag schon zur Probezeit einzahlen, aber bei der Aufnahme in die Genossenschaft.

Wenn du in einem Haus der Wohnungsgenossenschaft wohnst, musst Du zusätzlich 12.000 € an diese Genossenschaft zahlen.

Du beteiligst Dich entsprechend Deiner Nutzung der gemeinschaftlichen Räumlichkeiten an den Gemeinschaftsdiensten (1 bis 4 Stunden pro Woche).

Es gibt bestimmte Vereinbarungen, die Du beachten mögest, wie die Nutzung von ausschließlich biologisch abbaubaren Pflegemitteln, rauchen nur in der Raucherecke, keine Nutzung von Handys auf dem Gelände u.a..

Nachhaltige Lebensweise im Ökodorf Sieben Linden – vorstellt bei bring-together
Teil des Geländes Ökodorf Sieben © Linden Ökodorf Sieben Linden

Seit 2008 bist Du Seminarleiter und gibst Workshops zu unterschiedlichen Themen des Zusammenlebens. Was ist Deine Motivation Menschen auf den Weg in ein Gemeinschaftsprojekt zu begleiten?

Ich habe selber die Erfahrung gemacht, dass es etwas ganz anderes ist, in einer Gemeinschaft zu leben als alleine oder z.B. als Familie oder Wohngemeinschaft. Um diese Selbsterfahrung – was bedeutet es, in einer Gemeinschaft zu leben? – zu unterstützen, leite ich im Team die »Ankommens-Seminare«.

In diesen Seminaren geht es um allgemeines Gemeinschafts-Erfahrungswissen und insbesondere um die persönliche Reflexion:

• Welche Qualitäten und Herausforderungen hat Gemeinschaft und wie stehen die Personen dazu, in Gemeinschaft zu leben?

• Wie beeinflussen Hierarchien und Finanzen eine Gruppe? Wie ist ihr eigenes Verhältnis zu Macht, Entscheidungsfindung und Geld?

• Eine Gemeinschaft fußt auf explizit formulierten oder untergründig gebildeten Wertvorstellungen und Motiven. Was sprechen die »Commitments« von Sieben Linden bei den Personen an?

Was ist Deine Vision für die Siedlungsgemeinschaft?
Was möchtest Du anderen auf den Weg mitgeben?

Leben in Gemeinschaft kann Dich auf Deinem Lebensweg sehr bereichern und inspirieren und ist entsprechend auch eine persönliche Herausforderung. Wenn Du der Ansicht bist, so bleiben zu wollen, wie Du bist, ist das Ökodorf Sieben Linden evtl. nicht der Lebensort für Dich. Es macht das Leben im Ökodorf also einfacher, wenn Du bereit bist (oder sogar Interesse daran hast), Dich auch zu ändern.

Wenn Du das möchtest, kannst Du bei Interesse viel Unterstützung von Deinen Mitbewohner:innen bekommen.

Man kann sich hier vielfältig ausprobieren, z.B. beruflich.

Leben in einem Ökodorf ist eine gute Möglichkeit, bezüglich der weltweiten sozialen und ökologischen Herausforderungen ein Teil der Lösung zu sein.

Wie bist Du auf bring-together aufmerksam geworden?

Im Rahmen des Projektes »Leben in zukunftsfähigen Dörfern« haben wir am 30.01.2021 eine online-Tagung durchgeführt. Mary-Anne Kockel hat sich zu der Tagung angemeldet und hatte Interesse geäußert, dort das Projekt bring-together vorzustellen. Das haben wir gerne aufgegriffen. So ist der Kontakt zu bring-together entstanden.

Was wünscht Du Dir für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass wir noch mehr Menschen zu einem gemeinschaftlichen und nachhaltigen Lebensstil inspirieren können. Man muss auch nicht unbedingt in einer intentionalen Lebensgemeinschaft leben, um gemeinschaftlich zu leben.

Ich wünsche mir, dass ich weiterhin sehr lebendige, schöne Beziehungen im Ökodorf leben kann, dass wir gemeinsam interessante Projekte entwickeln und durchführen.

Ich wünsche uns als Gemeinschaftsbewegung noch mehr Außenwirkung und Beitrag für eine nachhaltige Gesellschaft.

 

Erstellt von Karin Demming | Linkedin folgen

Christoph Strünke über das Gemeinschaftsprojekt Ökodorf Sieben Linden vorstellt bei bring-together
Christoph Strünke © Ökodorf Sieben Linden
Ökodorf Sieben Linden vorstellt bei bring-together
Ökodorf Sieben Linden
Ökodorf Sieben Linden

Wir bauen ein Dorf für im Endzustand ca. 300 Menschen auf, in dem alle Lebensbereiche ökologisch und sozial nachhaltig organisiert sind. Schon realisiert: Strohballenhäuser, 140 Mitbewohner von 0 - 80

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